Hans Tutschku

Hören als Ritual

Text für die CD „9 Trajectoires“, herausgegeben vom GRM, Paris, 2018

Die CD enthält folgende meiner Werke:

extrémités lointaines, 1998
distance liquide, 2007
Monochord, 2008
migration pétrée, 2001

 

Hören als Ritual

Manchmal werden wir nach unserem „idealen Hörer“ gefragt. Ich habe seit Jahren an einen Hörer gedacht, der neugierig auf diese Welt, ihre Kulturen und Menschen ist. Jemand, der gerne an unbekannte Orte reist – wenn auch nur mental. In letzter Zeit wurde ein weiterer Aspekt wichtig: Der Zuhörer sollte sich die Zeit für das Zuhören als engagierten Akt nehmen.
Dies kann natürlich am besten in einer Konzertsituation erreicht werden, in der Musik keinen akustischen Vorhang für andere tägliche Aktivitäten darstellt, sondern eine Gemeinschaft interessierter Personen den Hörmoment teilt. Man kann es aber auch mit einer CD und guten Lautsprechern – oder besseren Kopfhörern – erleben.
Als Ritual zuhören – ohne etwas anderes zu tun – einfach in die Klangwelt eintauchen und alle inneren Bilder und Vorstellungen fließen lassen.
Meine Musik verwendet aufgenommene Klänge aus vielen Quellen und Kontinenten und verschmilzt sie zu neuen Formen, Energien und Geschichten. Ich denke viel über „Element“ und „Kontext“ nach. Ein aufgenommener wurde aus seinem natürlich klingenden Kontext genommen. Sagen wir, ich nehme eine Stimme auf der Straße auf. Ich bekomme nicht nur die Stimme, sondern auch andere Geräusche, die sich in der Umgebung abspielen.
Meine Arbeit als Komponist wird jetzt einen imaginären Klangzusammenhang neu herstellen, in den diese „Elemente“ eingefügt werden. Daher reinige ich oft die Klänge ihres ursprünglichen Kontexts, um sie „neutraler“ zu machen. Dies geschieht durch verschiedene Methoden von Computerverarbeitungen.
Ich erhalte neue Elemente, kombiniere sie mit anderen, die zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Umgebungen stattfanden. In diesem neuen, imaginierten Kontext schaffe ich Beziehungen, die in der Realität nicht offensichtlich oder nicht möglich waren.
Die Erkennbarkeit eines Klangs hat in meiner elektroakustischen Musik eine starke Bedeutung und ich versuche, sie zu gestalten. Ich verstehe meine Kompositionen nicht als „akusmatisch“ – im historischen Sinne des Begriffs -, bei der das geistige Bild der Quelle ausgeblendet wird. Ich spiele mit einem breiten Spektrum zwischen Realität und Abstraktion.
Subjektivität und Objektivität sind auch sehr relativ für mich, da sie sehr stark von der Bildung, Kultur, den Erwartungen des Zuhörers usw. abhängen. Ich kann das nur anhand meines Zuhörens und meines Wissens beurteilen. Etwas, das in Mitteleuropa selbstverständlich ist, kann für ein japanisches Publikum nicht dasselbe Gefühl von „offensichtlich“ auslösen.

Die vier Arbeiten auf dieser CD beinhalten unterschiedliche Auseinandersetzungen mit der Idee eines Klangrituals.
„extrémités lointaines“ war das erste Werk, bei dem mir die Idee eines Klangrituals klar wurde. Nachdem ich einen Monat in Südostasien verbracht hatte, formte die Intensität meiner Eindrücke dieser Komposition. „Migration pétrée“ bringt zwei Klangbilder in Bezug: fliegenden Steinen und eingesperrte Vögel. „Distance liquide“ ist eine Reflexion über die Distanz zu Freunden und Familie, und „Monochord“ ist eine persönliche Klang-Hommage an den Schweizer Bildhauer und Komponisten Oscar Wiggli.

Ich versuchte nicht, bestehende Rituale zu kopieren. Ich gestalte Klänge zu Hörerlebnissen, die darauf hindeuten, dass etwas gefeiert wird. Aber wir kennen nicht alle Details ihrer Bedeutungen und Implikationen.
Wir sind eingeladen, den Moment zu teilen und neugierig zuzuhören.

August 2017

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